Sektion 18

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Das Gesicht als Schauplatz: Virtualität und Verkörperung des Affekts

Haus 1, Raum T1003 (Turm) | Building 1, Room T1003 (tower)

Sektionsleitung und Kontakt:
Karin Peters (Mainz), E-Mail: peterska@uni-mainz.de
Bastian Piejko (Mainz), E-Mail: bpiejko@students.uni-mainz.de

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Nachdem zuletzt wahlweise das verhüllte oder das digitalisierte Gesicht millionenfach und weltweit zum Alltag und Politikum wurde, lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass ein neues Kapitel in der Kulturgeschichte des Fazialen (Belting 2013) aufgeschlagen wurde. Seit über zwanzig Jahren reißen auch in der Literaturwissenschaft (Lichau 2014), Theaterwissenschaft (Baccanti et al. 2021) und Filmwissenschaft (Aumont 1992) die Debatten über das Gesicht nicht ab. Dennoch wollen wir in Anbetracht der zeitge­schicht­lichen Relevanz das Gesicht literatur- und kulturwissenschaftlich erneut unter dem Lem­ma von „Präsenz und Virtualität“ betrachten. Denn wie schon Macho (1996) mit Verweis auf die Medialisierung unserer Gegenwart betont, „annoncieren“ Gesichter vor­dergründig Nähe, obwohl dieses selbst blind und stumm bleibt. Intimität kann in Darstellungen des Gesichts nur als Spur unseres Präsenzbegehrens simuliert werden (Nancy 2014). Dabei spielen Intimität und Distanz, Präsenz und Virtualität auch in grund­legendere Aspekte der Affektdarstellung oder -übertragung hinein (Deleuze 1983).

Methodologisch gehen wir deshalb bei unseren Überlegungen von der Analyse aus, die Barthes 1970 in L’Empire des signes angestellt hat: Er beschreibt die Weiße des Gesichts eines japanischen Schauspielers als ein Zeichen, das in zwei Richtungen zugleich be­deutet: „l’immobilité (que nous appellerions « moralement » : impassibilité) et la fragilité (que nous appellerions de la même manière mais sans plus de succès : émotivité)“ (Barthes 1970/2002a, S. 419). Barthes spricht dabei von einer enigmatischen Dichte des mas­kenhaften Gesichts, auf dem eine ‚Mimen-Schrift‘ gezeichnet wird, die für ihn als Europäer fremd wirkt. Das Gesicht als Zeichen affiziert einerseits körperlich, ja könne so­gar Ekel („écœurement“; ebd.) auslösen (es besitzt also ein punctum; Barthes 1980/2002b, S. 809), und wird andererseits mit Begriffen aus der Affektlehre besetzt: im­passibilité und émotivité. Barthes widerspricht jedoch der Vereinfachung, ein Gesicht sei expressiv. Vielmehr besteht er darauf, dass das Gesicht nur als Aufkündigung von Be­deutung gelesen werden kann – gerade im Hinblick auf den Affekt. Die von ihm gewählten Begriffe lassen sich deshalb in das Begriffspaar der Virtualität und Präsenz übersetzen. Ein in die körperliche Abwesenheit entrückter, maskierter Affekt im gelassenen Gesicht wäre demnach quasi nur virtuell zuhanden. Dahingegen ließe sich ein im Gesicht insze­niertes Gefühl, das sich als authentisches Berührtwerden des ‚zerbrechlichen‘ Subjekts geriert, dort als körperlich präsent begreifen. Es ist die körperliche Geste eines Affekts, obwohl dieser in seiner kognitiv-emotionalen Dimension dem Körper zugleich äußerlich bleiben muss. Somit wird die Semiotik des „Gesichtshandelns“ (Hier­geist/Puccio 2016, S. 19) anschließbar an Debatten der Affekttheorie und -poetik sowie die Frage, wie Subjekte sich in historisch verschiedenen emotionalen, kulturellen und medialen Regimen auf der Leinwand des Gesichts ‚zur Schau stellen‘.

Um die Konstituenten dieser Relation zu umreißen, wollen wir zum einen den Fokus auf die Affektpoetik des Gesichts in unterschiedlichen Medien legen und zum anderen eine diachrone Linie verfolgen, die von der Rhetorik des Affekts in der Frühen Neuzeit (Cock­croft 2003) über die Kodifizierung des Ausdrucks in der bürgerlichen Kultur (Kappelhoff 2001) bis hin zur Defragmentierung in Moderne (Hellberg 2021) und Postmoderne (Ma­cho 1996) reicht – auch mit Blick auf die wandelbare Erinnerungsqualität, die War­burg zufolge visuellen Pathosformeln des physiognomischen Ausdrucks anhaftet (War­burg 1929). Hinsichtlich der frühen Phase fazialer Verkörperungen des Affekts wurde bereits auf die Rhetorisierung des tragischen Gesichts in der Renaissance (Chris­tiansen 2011) und deren Vorspiele in der mittelalterlichen Passio (Hazard 2021) bzw. auf die Rolle der gendermarkierten spanischen Mystik hingewiesen, in Verbindung mit lite­ra­rischen Herr­scher­bildern und Abgrenzung von der einsetzenden Taxonomie des 17. Jahrhunderts mit ihrem „Baukastensystem der Gesichtsteile“ (Kirchner 1991) etwa bei Le Brun (Traité des passions, 1688). Ohne eine uni-lineare Geschichtserzählung dieser Ent­wicklung weiter­spin­nen zu wollen, möchten wir ähnliche „Schaltstellen“ in den Blick nehmen. Zudem wird die westlich konstruierte Opposition eines orientalen Schauspiels der Geste gegenüber dem okzidentalen Schauspiel der Mimesis (Barthes 2002a) zu hinterfragen sein. Um die Er­gebnisse von Hiergeist und Puccio (2016) in Anschluss an den Frankoromanistentag 2014 hinsichtlich der Gesamtromania zu erweitern, wünschen wir uns insofern Beiträge, die unterschiedliche Epochen, Sprachen und Kulturen berück­sich­tigen.

Dass im Hinblick auf die Virtualität des Affekts der Neuzeit besondere Aufmerksamkeit gel­ten muss, ist u.a. der Tatsache geschuldet, dass bereits die klassische Moderne das Prin­zip der „non-figuration“ im Porträt verficht, dieses dann aber postmodern gesteigert wird zu einem „surcharge de l’énigme“ (Nancy 2014) der Fragmentierung und Auflösung.

Insbesondere in der Lyrik folgt moderne Gesichtsdarstellung dem „Konzept der Dezen­trierung“. Postkoloniale Literaturen wenden dies ihrerseits in Sozialkritik und politischen Kommentar um, etwa wenn Ben Jelloun in L’Enfant de sable (1985) mit einer Nah­auf­nahme des Gesichts seiner gendermaskierten Protagonistin einsteigt, das von Falten eines verstellten Lebens paradox gezeichnet und von Ticks körperlich punktiert wird. Auch aktuell reißt das Interesse nicht ab, wie der preisgekrönte Roman Barba ensopada de sangue (2012) des Brasilianers Galera beweist, in dem die Pathologie, keine Er­in­ne­rung an Gesichter zu haben (Prosopagnosie), ins Zentrum von Handlung und Ästhetik ge­stellt wird. Diese Ausschnitte lassen hoffen, dass die Auseinandersetzung mit dem Gesicht als Schauplatz des Affekts zwischen Präsenz und Virtualität viele An­schluss­mög­lichkeiten bietet.

Mögliche Themen:

  • Affektrhetorik des Gesichts in der frühneuzeitlichen Literatur und Malerei
  • Herrscherbilder vs. Gesichter der Marginalisierten
  • Klassische Taxonomie zwischen Mimesis und Kontrollverlust
  • Literarische Codierung und Dekodierung des ‚bürgerlichen Gesichts‘
  • Fragmentierte Subjektivität in der (Post-)Moderne
  • Dekolonialisierung des normativen ‚weißen Gesichts‘
  • Gendermaskerade, male gaze und politischer Affekt im Kino
  • Pathologisierung und Biomacht in der zeitgenössischen fazialen Ästhetik

Bibliographie

Aumont, Jacques: Du visage au cinéma, Paris: Éditions de l’Étoile 1992.

Baccanti, Anna / Link, Franziska / Spangenberg, Johanna / Stichnoth, Antonia (Hgg.): Un/Masking: Reflections on a Transformative Process, Berlin: Neofelis 2021.

Barthes, Roland: „L’Empire des signes“ [1970], in: ders.: Oeuvres complètes, hg. v. Éric Marty, Bd. III, Paris: Seuil 2002a, S. 347-446.

Barthes, Roland: „La Chambre claire“ [1980], in: ders.: Oeuvres complètes, hg. v. Éric Marty, Bd. V, Paris: Seuil 2002b, S. 785-892.

Belting, Hans: Faces. Eine Geschichte des Gesichts [2013], München: C.H. Beck 2019.

Christiansen, Keith (Hg.): Gesichter der Renaissance: Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, München: Hirmer 2011.

Cockcroft, Robert: Rhetorical Affect in Early Modern Writing. Renaissance Passions Reconsidered, Basingstoke u.a.: Palgrave Macmillan 2003.

Darwin, Charles: The Expression of the Emotions in Man and Animals [1872], hg. v. Joe Cain und Sharon Messenger, London: Penguin Classics 2009.

Deleuze, Gilles: Cinéma 1: L’image-mouvement, Paris: Minuit 1983.

Ekman, Paul: Emotion in the Human Face: Guide-Lines for Research and an Integration of Findings, Oxford: Pergamon Press 1972.

Ekman, Paul: The Face of Man: Expressions of Universal Emotions in a New Guinea Village, New York: Garland STPM Press 1980.

Hazard, Alice: The Face and Faciality in Medieval French Literature, 1170-1390, Cambridge: Boydell & Brewer 2021.

Hellberg, Sherilyn Nicolette: „A Chaos of Faces: Expressions of Despair in Tove Ditlevsen’s Ansigterne“, in: Scandinavian Studies 93:1 (2021), S. 96-114.

Hiergeist, Teresa / Puccio, Nelson (Hgg.): Envisager la face: Facetten des Gesichts in der Frankoromania, Berlin: LIT 2016.

Kappelhoff, Hermann: „Bühne der Empfindungen – Leinwand der Emotionen. Das bürgerliche Gesicht“, in: Helga Gläser / Bernhard Groß / Hermann Kappelhoff (Hgg.): Blick – Macht – Gesicht, Berlin: Vorwerk 8 2001, S. 9-41.

Kirchner, Thomas: L’expression des passions. Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts, Mainz: von Zabern 1991.

Lichau, Karsten: Menschengesichte: Max Picards literarische Physiognomik, Berlin: De Gruyter 2014.

Macho, Thomas: „GesichtsVerluste. Faciale Bilderfluten und postindustrieller Animismus“, in: Ästhetik und Kommunikation 94/95 (1996) (= Medium Gesicht. Die faciale Gesellschaft), S. 25-28.

Nancy, Jean-Luc: L’Autre portrait, Paris: Galilée 2014. Warburg, Aby: „Mnemosyne Einleitung“ [1929], in: ders.: Werke in einem Band, hg. v. Martin Treml, Sigrid Weigel und Perdita Ladwig, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 629-639.