Sektion 16

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Spielarten literarischer Raum-Präsenzen in narrativen Texten vom 19.–21. Jahrhundert

Haus 3, Seminarraum 223 | Building 3, Room 223

Sektionsleitung und Kontakt:
Marina Hertrampf (Passau), E-Mail: Marina.Hertrampf@uni-passau.de
Hanna Nohe (Bonn), E-Mail: hnohe@uni-bonn.de

Liste der Vortragenden und Vortragstitel
Abstracts
Zeitplan

Präsenz ist ein theoretisch facettenreich erfasster Begriff, der mit Blick auf die Literatur- und Medienwissenschaften vor allem von Hans Ulrich Gumbrecht und Dieter Mersch vielfältig anschlussfähige Theoretisierungen erfuhr. Gemeinsam ist den unterschiedlich fokussierenden Ansätzen die Grundannahme, dass Präsenz neben der temporalen Di­men­sion (Gegenwärtigkeit) immer auch eine physische Dimension (Anwesenheit) und eine mediale Ebene (Unmittelbarkeit) aufweist. Dabei spielen die Möglichkeiten, das Präsenz-Erleben ästhetisch zu vermitteln sowohl in der literatur- und bildwissen­schaft­lichen Re­fle­xion als auch in der literarischen Darstellung selbst eine wesentliche Rolle. Bei der Frage nach dem Verhältnis von Präsenz und Darstellung ist zum einen das Aisthetische, d.h. die Vielfalt an Wahrnehmungsformen von Präsenz relevant.

Präsenz von fernen Räumen kann beispielsweise imaginiert, erträumt oder geträumt werden. In Julio Cortázars Rayuela (1963) etwa lässt Horacios Vorstellungskraft teils die Grenzen zwischen Buenos Aires und Paris verschwimmen, und in Fatou Diomes Le ventre de l’Atlantique (2003) transportiert Salies Imagination beim Betrachten eines Fuß­ball­spiels im Fernsehen in Frankreich die Rezipierenden auf die senegalesische Insel Niodior. Zum anderen sind verbal wie ikonisch abbildende Verfahren wesentlich, mit denen nar­ra­tive Texte Präsenzeffekte erzeugen können. So schafft typographische Nähe von real ent­fernten Räumen textuelle Gegenwärtigkeit im Sinne von Jurij Lotmans „räumliche[m] Kontinuum“ (1993: 329), beispielsweise in Igiaba Scegos La mia casa è dove sono (2010), wo die mentale Kartierung zu einer Überlagerung Roms und Mogadischus führt. Ottmar Ette (2020) wiederum präsentiert verschiedene geometrische Formen wie Pendel, Kreis und Stern zum Wiedergeben von (Reise-)Bewegungen. In Benito Pérez Galdós’ Doña Per­fecta (1876) etwa symbolisiert der Zug die pendelartige Verbindung von Stadt und Land, welche sich im Roman diametral gegenüberstehen. Zugleich generieren eingefügte Ab­bil­dungen wie Fotografien – beispielsweise in Bruges-la-Morte (1892) von Georges Ro­den­bach – auch visuelle Präsenz.

In unserer Sektion wollen wir uns unter dem nachwirkenden Einfluss des spatial turn mit dem Spannungsverhältnis von Präsenz und Virtualität auseinandersetzen. Ist hier von Präsenz die Rede, so ist dabei die narrativ erzeugte Gegenwärtigkeit von Räumen und Orten in literarischen Texten gemeint. Just an dieser Stelle kommt auch die Frage der Authentizität und des Realitätsgehaltes bzw. der Fiktivität oder Virtualität des evozierten Raumes auf. Basiert ein im Sinne von Roland Barthes ,geschaffener effet de réel‘ (1968) eines bestimmten Raumes oder Ortes auf einer realweltlich vorgefundenen Räumlichkeit oder wird ein rein fiktiver Raum trotz seiner Virtualität unmittelbar erfahrbar gemacht? Es geht folglich um die Reziprozität zwischen realen und fiktionalen, zwischen real ge­mach­ten und rein virtuellen Räumen. Dabei kommt der Bewegung im Raum und deren nar­rativer Abbildung eine ebenso große Bedeutung wie den durch Worte bewegten und transformierten Räumen zu. Es geht also um die Auslotung unterschiedlicher Verfahren der textuellen Vergegenwärtigung erinnerter, bereister, erlebter, erlittener oder kon­stru­ierter, imaginierter und virtueller Räume. Stehen dabei narrative Texte im weites­ten Sin­ne im Zentrum des Interesses, so erweist sich die Untersuchung ikonischer, spe­ziell foto­gra­fischer Raum-Vergegenwärtigung im Spannungsverhältnis zu rein sprachlich auf­ge­spann­ten Räumen als besonders produktiv.

Der Bedeutung der Fotografie bei der medialen Integration eines seinerseits ambiva­len­ten Verhältnisses von Präsenz und Absenz des Abgebildeten Rechnung tragend, soll der Un­tersuchungszeitraum mit dem 19. Jahrhundert einsetzen und bis in die unmittelbare Gegenwart reichen. Um die auch diachronische Vergleichbarkeit des Untersu­chungs­kor­pus zu gewährleisten, sollen ausschließlich erzählende Textgattungen in den Blick genommen werden, das Spektrum möglicher Untergattungen ist dabei weit gefächert und kann u.a. von Reiseberichten und Regionalromanen über Utopien und Dystopien bis hin zu Science-Fiction- Romanen reichen.

Mögliche Fragenkomplexe könnten dabei u.a. sein:

  • Anhand welcher textueller und narrativer Verfahren wird Reziprozität zwischen präsenten und gedachten Räumen erreicht?
  • Wie wird textuell Bewegung im Raum geschaffen und wie bewegen Wörter Räu­me?
  • Wie dienen fiktionale oder exotische Räume dazu, reale Räume zu deuten?
  • Wie entwickeln sich die Räume, ihre Wechselbeziehung und die narrativen Ver­fahren diachronisch?
  • Besonders aufschlussreich könnte es zudem sein, unterschiedliche kulturelle und räumliche Blickpunkte gegenüberzustellen. Welche Räume werden etwa in Latein­amerika, Afrika oder Asien im Vergleich zu Europa als imaginär, exotisch dar­ge­stellt und inwiefern unterscheiden sich die narrativen Verfahren hier?

Überdies ist auch der intermediale Zugriff denkbar:

  • Wie trägt Intermedialität dazu bei, Präsenz zu schaffen?
  • Wie kann durch die visuelle Einarbeitung realer oder imaginierter Räume – bei­spiels­weise durch Fotos, Illustrationen, Stiche – textuelle Präsenz von real ent­fernten bzw. gar nicht existierenden Räumen geschaffen werden?

Bibliografie

Barthes, Roland (1994 [1968]), „L’effet de réel“, in: Œuvres complètes II, hrsg. von Eric Marty, Paris: Seuil, 479-484.

Ette, Ottmar (2020), ReiseSchreiben, Berlin: De Gruyter.

Gumbrecht, Hans Ulrich (2012), Präsenz, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Lotman, Jurij M. (41993), Die Struktur literarischer Texte, übers. v. Rolf-Dietrich Keil, München: Fink.

Mersch, Dieter (2002), Was sich zeigt, Materialität – Präsenz – Ereignis, München: Fink.

Mersch, Dieter (2010), Posthermeneutik, Berlin: Akademie.