Sektion 12

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Räume des Möglichen: Literarische und mediale Präsenz von Autorinnen der Moderne und der Avantgarde in der Romania

Haus 3, Seminarraum 124 | Building 3, Room 124

Sektionsleitung und Kontakt:
Kirsten von Hagen (Gießen), E-Mail: Kirsten.v.Hagen@romanistik.uni-giessen.de
Jana Keidel (Gießen), E-Mail: Jana.Keidel@romanistik.uni-giessen.de
Eva-Tabea Meineke (Mannheim), E-Mail: meineke@uni-mannheim.de
Stephanie Neu-Wendel (Mannheim), E-Mail: stephanie.neu-wendel@uni-mannheim.de

Liste der Vortragenden und Vortragstitel
Abstracts
Zeitplan

„[…] toutes les femmes, toutes ces princesses de la terre, elles ne peuvent que plaire, et, si elles ne plaisent point, elles sont mortes: voilà leur sort. Elles n’ont pas d’autre réalité que notre désir […]“ (de Noailles 2017 [1905], 54) – so beteuert Antoine, der Protagonist von Anna de Noaillesʼ Roman La domination (1905) die Abhängigkeit von Frauen in der Ge­sellschaft seiner Zeit und stellt damit ein hierarchisierendes Gender-Konstrukt zur Schau, das de Noailles im Verlauf ihres Romans wiederum dekonstruiert. Die Sektion wirft die Frage auf, wie romanische Autorinnen der Moderne und der Avantgarde sich in einem gesellschaftlichen, politischen und literarischen bzw. künstlerischen Diskurs positio­nieren, in dem Präsenz von Frauen die Ausnahme und nicht die Regel darstellte (cf. Bard 2008; Curti 1996; DeGiorgio 1992; Scharold 2002). Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt dabei die sich daran anschließende Frage, wie sie durch ihre Werke, aber auch durch auktoriale Selbst-Inszenierungen „virtuelle Möglichkeitsräume“ schaffen und da­durch die „lacunes structurales d’un système de possibles“ (Bourdieu 1992, 332) auf­zeigen und kreativ ausschöpfen. Aufgrund zahlreicher Einschränkungen bezüglich einer künstlerischen Autonomie ist ihr Schreiben zumeist als besonders innovativ einzuordnen, wurde aber lange Zeit nicht als solches verstanden und auch nicht mit seinem avant­gar­distischen Potential wahrgenommen. Die Moderne wurde traditionell als eine männlich do­minierte Epoche vorgestellt, erst in kürzerer Zeit beschäftigt sich die Forschung mit neuen Blickwinkeln, die Marginalisierungen hinterfragt und Präsenzen (z.B. im Kanon) überprüft (cf. Assmann 2006; Pfeiffer 2020 oder aktuelle Projekte wie z.B. Kirsten von Hagens und Jana Keidels DFG-Projekt „‚…et que mon livre porte à la foule future‘. Anna de Noailles – Autorin der Belle Époque, Akteurin der Moderne“ sowie die Forschungsgruppe „Studi delle donne nella letteratura italiana“ der Associazione degli Italianisti). Durch diese erweiterten Perspektiven kann die Moderne als Epoche neu verstanden werden.

Den im „espace des possibles“ gegebenen Spielräumen bzw. Chancen – von Bourdieu selbst als „virtualité“ (Bourdieu 1992, 332) bezeichnet – wohnt trotz ihres „Als-ob“-Cha­rakters nicht nur ein großes literarisches, sondern auch ein gesellschaftsrelevantes Po­ten­tial im Hinblick auf die Positionierung von Frauen im literarischen bzw. künstlerischen Feld und damit in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit inne, wie wir im Rahmen der Sektion aufzeigen und diskutieren möchten. Wir beziehen uns dabei auf die Auslotung der Verbindung von „Realität“ und „Virtualität“, im Sinne der Herleitung des Begriffs von „virtus = Tugend, Tüchtigkeit, Kraft“ (Jeschke 2014, 9) und der daraus resultierenden Zu­schreibung einer „hohe[n] ‚Realitätskomponente‘“ (ebd.) von Virtua­lität, die als „episte­mo­logische Eigenleistung“ (Kasprowicz/Rieger 2020, 9) zu werten ist („Das Als ob eines abwesenden physischen Speichers bei gleichzeitigem Anspruch seiner Funktionalität begreift das Virtuelle nicht als fiktiv oder unreal, sondern als Medium eines Zugriffs auf das (noch) nicht-physische, aber Mögliche“; Kasprowicz/Rieger 2020, 12; cf. zum Verhältnis von Präsenz-Repräsentation auch Baschera/Bucher 2008).

Als wesentlich kristallisiert sich in diesem Zusammenhang die Bedeutung von „Literatur als Technik der Vergegenwärtigung und zugleich als Medium der Potentialität/poten­tiel­len Realisierung“ heraus, und zwar gleich in Bezug auf mehrere Aspekte. Zum einen finden sich in narrativen und lyrischen Texten von Autorinnen wie u.a. Anna de Noailles, Colette, Sibilla Aleramo, Emilia Pardo Bazán, Ernestina de Champourcin, Antonia Pozzi, Florbela Espanca sowie Cecília Benevides de Carvalho Meireles Dekonstruktionen von Hierarchien des literarischen Feldes, die Strukturen jenseits des jeweils aktuellen „status quo“ möglich erscheinen lassen; zum anderen werden Gender-Dichotomien (cf. Gerling 2006) in Frage gestellt, z.T. auch zugunsten von Non-Binarität. Verstärkt treten entspre­chende Entwürfe dann auch bei Autorinnen zutage, die sich im Umfeld der Avantgarden – häufig in transkulturellen Kontexten und im Schatten ihrer Ehemänner oder aber in alternativen Lebensentwürfen – bewegten (z.B. Claude Cahun, Leonora Carrington, Claire Goll, Ré Soupault, Sonia Delaunay, Maria Ginanni, Rosa Rosà u.a.). Darüber hinaus wird – durch das Suggerieren auto­bio­graphischer Bezüge – die Referentialität von als Fiktion deklarierten Werken zur Diskussion gestellt und somit auch die Wechselwirkung von „Präsenz“ und „Präsens“ in den Vordergrund gerückt, im Sinne der Frage, „[i]nwiefern […] ästhetische Strategien von Präsens/z immer auch ein verstärktes Gefühl für die (histo­rische) Gegenwart [evozieren]“ (Kolb/Prokić 2011, Hervorhebung im Original). Hinzu kommt – exem­pla­risch z.B. bei den Surrealistinnen – ein inter- bzw. multimediales Spiel mit Virtualität und Präsenz durch wechselseitige Beziehungen zwischen literarischem Text und anderen Künsten/Medien.

Die Fokussierung auf Autorinnen bzw. Künstlerinnen der Moderne und/oder der Avant­garde erscheint vor dem Hintergrund relevant, dass ihre Werke Anknüpfungs­punkte für aktuelle Diskurse bieten, insofern als ihre subjektkonstitutiven Entwürfe mit großer Kreativität lebendige Gleichberechtigung der Stimmen im Sinne eines „post­struk­tu­ralistischen Differenzdenkens“ (cf. Brohm 2002, 36) und eines modernen Pluralismus vor der Zeit imaginieren und erstreben. Unser Sektionsvorschlag knüpft an die bereits exis­tie­renden Initiativen, den marginalisierten und kaum wahrgenommenen Autorinnen Prä­senz in Forschung und Lehre zu verschaffen, sowie an weitere eigene Vorarbeiten in diesem Zusammenhang an und möchte dazu beitragen, die bereits bestehenden For­schungs­kontakte zu vertiefen und international auszuweiten.

Konkrete Forschungsfragen, die sich aus dem Rahmenthema des Sektionsvorschlags er­ge­ben, sind folgende:

  • Welche (textbasierten und visuellen bzw. intermedialen) Strategien nutzen Auto­rin­­nen/Künstlerinnen der Moderne/der Avantgarde zur Auslotung virtueller Räu­­me des Möglichen?
  • Wie gestaltet sich das Wechselspiel zwischen (vermeintlicher) Präsenz und Vir­tua­lität im Sinne möglicher Inszenierungen einer auktorialen posture in Literatur und anderen Medien? In diesem Zusammenhang lässt sich der Frage nachgehen, wie „die (Un-)Möglichkeit, Gehör zu finden, d.h. im Diskurs präsent zu werden, sich in anderer Gestalt zu artikulieren vermag“ (Engel 2019, 200).
  • Auf welche Weise gelingt es den Autorinnen, den subalternen Stimmen von Frauen sprachliche Präsenz zu verschaffen? Welche Formen und Kanäle werden dabei funktionalisiert?
  • Wie wird „Nicht-Präsenz“ (z.B. der Figur der Mutter, aber auch des als fragmentiert empfundenen Ich) thematisiert/inszeniert?

Erwünscht wären, im Sinne eines transversalen Charakters der Sektion, neben literatur- und kulturwissenschaftlichen z.B. auch medienwissenschaftliche sowie literatursozio­lo­gische und literaturhistorische Beiträge in einer romanischen Sprache oder auf Deutsch.

Bibliographie

Allmer, Patricia: „Fantastische Visionen: Fotografinnen und Surrealismus“, in: Fantastische Frauen: Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo. Hg. von Ingrid Pfeiffer. München 2020, S. 99-104.

Assmann, Aleida: „Kanon und Archiv – Genderprobleme in der Dynamik des kulturellen Gedächtnisses.“ In: A canon of our own? Kanonkritik und Kanonbildung in den Gender studies. Hg. von Marlen Bidwell-Steiner. Innsbruck; Wien; Bozen 2006, S. 20-34.

Bard, Christine: Die Frauen in der französischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts. Köln; Weimar; Wien 2008.

Bello Minciacchi, Cecilia: Scrittrici della prima avanguardia. Concezione, caratteri e testimonianze del femminile nel futurismo. Florenz 2012.

Bello Minciacchi, Cecilia (Hg.): Spirale di dolcezza + Serpe di Fascino. Scrittrici Futuriste. Antologia. Neapel 2001.

Brohm, Heike: „Die Ambivalenz der Weiblichkeitskonstitution in Sibilla Aleramos Una donna.“ In: Scrittura femminile. Italienische Autorinnen im 20. Jahrhundert zwischen Historie, Fiktion, Autobiographie. Hg. von Irmgard Scharold. Tübingen 2002, S. 35-47.

Bourdieu, Pierre: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire. Paris 1992.

Chadwick, Whitney: Les femmes dans le mouvement surréaliste. Paris 1988.

Colville, Georginia/Conley, Katherine: La femme s’entête: la part du féminin dans le surréalisme.

Colloque de Cerisy-la-Salle. Paris 1998.

Curti, Daniela: „Il fascismo e le donne: Imposizione e accettazione della ‚Mistica della maternità‘.“ In: Italian Studies in Southern Africa/Studi d’Italianistica nell’Africa Australe 9:2 (1996), S. 6-23.

Datta, Venita: „Superwomen or Slaves? Women Writers, Male Critics, and the Reception of Nietzsche in Belle-Epoque France.“ In: Historical Reflections / Réflexions Historiques 33:3 (Herbst 2007), S. 421-447.

DeGiorgio, Michela: Le Italiane dall’Unità a oggi. Modelli Culturali e comportamenti sociali. Rom; Bari 1992.

De Noailles, Anna: La domination. Paris 2017 [1905].

Engel, Juliane: „Diskurse der (Nicht-)Präsenz. Artikulationen – Materialitäten – Fremdheiten.“ In: Zeitlichkeit und Materialität. Interdisziplinäre Perspektiven auf Theorien und Phänomene der Präsenz. Hg. von Juliane Engel, Mareike Gebhardt, Kay Kirchmann. Bielefeld 2019, S. 195-204.

Engelking, Tama L.: „La Mise-en-scène de la femme-écrivain : Colette, Anna de Noailles and Nature.“ In: Modern Language Studies 34:1/2 (2004), S. 52-64.

Gerling, Vera Elisabeth: „Emanzipation der/durch Sprache: Subversion von Genderdiskursen bei Colette.“ In: Literarische Gendertheorie: Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette. Hg. von Ursula Link-Heer, Ursula Hennigfeld, Fernand Hörner. Bielefeld 2006, S. 75-92.

Jeschke, Sabina/Kobbelt, Leif/Dröge, Alicia: „Einführung in den Band.“ In: Exploring Virtuality: Virtualität im interdisziplinären Diskurs. Hg. von Sabina Jeschke, Leif Kobbelt, Alicia Dröge. Wiesbaden 2014, S. 7-18.

Kasprowicz, Dawid/Rieger, Stefan: „Einleitung.“ In: Handbuch Virtualität. Hg. von Dawid Kasprowicz und Stefan Rieger. Wiesbaden 2020, S. 1-22.

Kolb, Anne/Prokić, Tanja: „Be, Now, Here: Präsens/z-Präsentationen wider die Repräsentation.“ In: Wider die Repräsentation: Präsens/z Erzählen in Literatur, Film und bildender Kunst. Hg. von Anne Kolb und Tanja Prokić. Frankfurt am Main u.a. 2011, S. 10-17.

Lampe, Angela: „‚Prenez garde aux objets domestiques‘ oder der weibliche Heimvorteil im Surrealismus“. In: Surreale Dinge: Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray; [… anlässlich der Ausstellung „Surreale Dinge – Skulpturen und Objekte von Dalí bis Man Ray“, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 11. Februar – 29. Mai 2011]. Hg. von Max Hollein und Ingrid Pfeiffer. Ostfildern 2011, S. 77-81.

Meineke, Eva-Tabea/Neu-Wendel, Stephanie: „Sperimentazioni avanguardistiche tra desiderio, follia e delusione – le lettere d’amore di Grazia Deledda e Sibilla Aleramo.“ In: La lettera italiana fra paratesto e testo letterario dal Trecento a Oggi. Hg. von Julia Görtz, Martha Kleinhans und Maria Chiara Levorato. Würzburg 2021, S. 91-110.

Perry, Catherine: „ In the Wake of Decadence: Anna de Noailles’ Revaluation of Nature and the Feminine.“ In: L’Esprit Créateur 37:4 (1997), S. 94-105.

Pfeiffer, Ingrid (Hg.): Fantastische Frauen: Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo. München 2020.

Salaris, Claudia: Le futuriste. Donne e letteratura d’avanguardia in Italia (1909/1944). Mailand 1982.

Scharold, Irmgard (Hg.): Scrittura femminile: italienische Autorinnen im 20. Jahrhundert zwischen Historie, Fiktion und Autobiographie. Tübingen 2002.

Sica, Paola: Futurist Women: Florence, Feminism and the New Sciences. Basingstoke 2016.

Zimmermann, Margarete: „Literaturgeschichte und weibliche memoria.“ In: Feministische Literatur­wis­sen­schaft in der Romanistik. Theoretische Grundlagen – Forschungsstand – Neuinterpretationen. Hg. von Renate Kroll und Margarete Zimmermann. Weimar; Stuttgart 1995, S. 9-17.