Sektion 9

Zurück zur Übersicht

Das dezentrierte Subjekt: Seelen- und Körperzustände in virtuellen Welten der romanischen Literatur vom 19. Jahrhundert bis heute

Haus 5, Seminarraum 134 | Building 5, Room 134

Sektionsleitung und Kontakt:
Anne-Sophie Donnarieix (Saarbrücken), E-Mail: anne-sophie.donnarieix@uni-saarland.de
Greta Lansen (Mannheim), E-Mail: lansen@uni-mannheim.de
Julia Görtz (Mannheim), E-Mail: julia.goertz@uni-mannheim.de

Liste der Vortragenden und Vortragstitel
Abstracts
Zeitplan

Der Begriff der Virtualität beinhaltet die Philosophie des Möglichen. Sie ist ein „Noch nicht“- oder „Als ob“-Modus und die große Vielfalt, wenn nicht gar Beliebigkeit, möglicher Ver­wendungsweisen führt nicht selten zu Verwirrung (Kasprowicz/Rieger, 2020). Wäh­rend sich in der zeitgenössischen Literaturtheorie eine medientechnologische Fixierung auf Virtualität feststellen lässt, belegen begriffsgeschichtliche und historische Befunde, dass der Terminus Virtualität schon seit dem späten 19. Jahrhundert als Bezeichnung von diversen Phänomenen und Sachverhalten gebraucht wurde. Hier ist nicht die Re­chen­ma­schine der Bezugspunkt, sondern eine menschliche Größe: jene der Phantasie. Beide Be­deutungsebenen von Virtualität sollen in der Sektionsarbeit beleuchtet werden.

Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Dezentrierung bzw. Zersplitterung, Ver­dop­pe­lung, Verwandlung oder Verschiebung, die ein Subjekt erfahren kann oder erfahren muss, wenn es in virtuelle Welten eintaucht – seien sie technisch realisiert oder po­ten­tialisierte Wirklichkeitsräume. Bereits in der Fiktion des 19. und 20. Jahrhunderts wird die Er­fah­rung einer virtuellen Dezentrierung des Subjekts anthropologisch-philosophisch er­kundet und literarisch ausgestaltet, von Mary Shelleys Frankenstein; or, The Modern Pro­metheus (1818), Théophile Gautiers Avatar (1857), Charles Baudelaires Les paradis arti­fi­ciels (1860), Benito Pérez Galdós’ La sombra (1870/1871) bis zu Luigi Pirandellos Il fu Mattia Pascal (1904) und Italo Calvinos Il visconte dimezzato (1951). Mit Einzug der sich rasant entwickelnden Technologien der virtual reality wird die Dezentrierung des Sub­jekts in den letzten Jahrzehnten dabei nicht nur in interaktiven Immersions-Medien er­fahrbar gemacht, sondern weiterhin auch in der Literatur ausgehandelt. Camille Laurens Celle que vous croyez (2016), Samanta Schweblins Kentukis (2018) oder Karoline Georges De Synthèse (2017) zeugen von einer Erweiterung und Verschiebung des klassi­schen Sub­jektbegriffs als hypokeimenon (dem Zugrundeliegenden) und subiectum (dem Unter­wor­fenen), da Subjektivität im Rahmen der technisch-realisierbaren Virtua­lität zu­nehmend unabhängig vom organischen Körper neu gedacht werden kann.

Die subjektbezogenen Möglichkeitsräume der Virtualität fordern hier weniger die mensch­­li­che Vorstellungskraft an sich heraus als vielmehr die noch immer bewährte kar­tesianische Ausgangsdifferenz zwischen einem singulären Körper und einer Seele, die das Individuum definiert. Die diesem Terminus zugrundeliegende Bedeutung (individuus ‘untrennbar’) versinnbildlicht die Konzeption einer einzelnen, für sich existierenden Per­son als Einheit, die über eine Seele mit Sitz in einem Körper verfügt. Ist diese Einheit nicht gegeben, oszilliert das Subjekt zwischen Identitätsspaltung, Jenseits-Erfahrung oder aber seelisch- körperlicher Unvollständigkeit.

Der Körper ist im Zuge der Säkularisierung der Moderne zu dem wohl wichtigsten Faktor der Individuation geworden, nicht nur mit der Anerkennung der Einzigartigkeit des Gesichts, sondern weiter gefasst, indem der Körper zur objektiven Umgrenzung der Sou­veränität des Egos gemacht wurde (Le Breton 2000). In dieser Sektion sollen vor allem Subjektformen erforscht werden, welche durch virtuelle Paradigmen gestört, dezentriert, vervielfacht oder zersplittert werden. Die Dezentrierung ist aus diesem Grund nach dem Kon­zept einer „déterritorialisation“ (Deleuze/Guattari, 1975) zu verstehen: Mit ihr ge­schieht eine nicht vollendete, subjektbezogene Verwandlung, die Signifikate und Signi­fi­kanten immer wieder verschiebt und umformt, sodass sich Identität (im biolo­gischen, literarischen oder soziopolitischen Sinne) als ein stets werdendes, neu zu deutendes Kon­strukt entfaltet.

Auch die heutige Herausbildung simulierter Identitäten bildet einen der Kernpunkte der Sektionsarbeit. Was passiert, wenn die virtuellen Welten in den Alltag eintreten und über Bildschirme, soziale Netzwerke und fingierte Wirklichkeitsräume gänzlich neue Iden­ti­tätskonfigurationen herbeiführen? Welche ästhetischen Formen werden erprobt, um diese virtuellen Selbstinszenierungen zu erzählen und die damit einhergehende Dezen­trierung des Subjekts auch literarisch zu entfalten? Im Gegensatz zu den Ovid’schen Ver­wandlungen, bei denen die körperliche Metamorphose nicht notwendig eine geistige oder seelische Identitätsstörung voraussetzt, stellt das Zeitalter der „Hyperrealität“ (Bau­dril­lard) die Frage der Untrennbarkeit des Individuums vor gänzlich neue Her­aus­for­de­rungen. In diesem Rahmen können beispielsweise die Inszenierungen digitaler Ava­tare und virtueller „Faux-self“ (Winnicott) erforscht werden, wie etwa bei den Romanen von Sandra Lucbert (La toile), Gabriel Naëj (Ce matin, maman a été téléchargée), Ales­san­dra C (Skill) oder Ernest Cline (Ready Player One). Es kann darüber hinaus untersucht werden, in­wiefern Autor:innen auf bekannte, traditionsreiche Motive zurückgreifen (Dop­­­pel­gän­ger, Geister, Golem, Cyborgs), um neuartige Ontologien zu problematisieren, welche sich außerhalb vertrauter Vorstellungsmuster offenbar schwer ausdrücken las­sen.

Es soll außerdem auf die literarische Darstellung posthumanischer Subjektivitäten ein­ge­gangen werden. Wenngleich der Begriff im Zuge neuer Technologien und wissen­schaft­licher Fortschritte der letzten Jahrzehnte eine starke Expansion in den westlichen Kul­turen erfährt (Maftei 2021), reichen seine Wurzeln jedoch mindestens bis zu den Auto­maten, Klonen oder golemartigen Kreaturen der europäischen Romantik, die bereits damals die Grenzen des menschlichen Körpers und Geistes in Frage stellten. Die Beispiele reichen von Villiers de L’Isle-Adam und E.T.A. Hoffmann bis zu den Gegenwartsromanen, -erzählungen und -dramen von Leonardo da Jandra (Distopía), Carmen Boullosa (La no­ve­la perfecta), Juan Mayorga (El Golem), Lina Meruane (Póstuma), Laura Pugno (Sirene), Niccolò Ammaniti (Ferro), Tiziano Scarpa (Acqua) oder Marie Darrieussecq (Notre vie dans les forêts), Michel Houellebecq (La possibilité d’une île) und Pierre Ducrozet (L’in­ven­tion des corps). Dabei können die Inszenierungen verwandelter, geänderter oder ge­besserter Körper untersucht, der intertextuelle Rückgriff auf mythische oder pro­me­the­i­sche Subjektstrukturen hinterfragt, und schließlich die politischen und ästhetischen Im­plikationen eines transhumanischen Gedankenguts analysiert werden, welches weni­ger die Verbesserung isolierter Körper als eine kollektive, technologische Trans­formation der Menschheit heraufbeschwört (Hunyadi 2018). Welche Möglichkeiten der Sub­jekt­bil­dung ergeben sich daraus? Können im Zuge dieses virtuellen enhancement neue Onto­logien festgestellt werden?

Die Sektion fokussiert derartige literarische Subjektverschiebungen sowohl im Rahmen einer rein imaginierten Virtualität als auch im Rahmen der technisch-bedingten virtual reality und umfasst dabei primär die literarische Produktion vom 19. bis zum 21. Jahr­hundert. Aufgrund der ausgewählten Themenbereiche sind außerdem Beiträge zur inter­medialen Aushandlung virtueller Subjektivität willkommen.

Bibliographie

Baudrillard, Jean: Simulacres et simulation. Paris: Galilée 1981.

Binczek, Natalie/Schäfer, Armin: „Virtualität der Literatur: eine Sondierung“, in: Rieger, Stefan/Schäfer, Ar­min/Tuschling, Anna (Hrsg.): Virtuelle Lebenswelten. Körper – Räume – Affekte, Berlin/Boston: De Gruyter 2020, S. 87–102.

Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Kafka. Pour une littérature mineure, Paris: Minuit, 1975.

Donnarieix, Anne-Sophie: Puissances de l’ombre. Le surnaturel du roman contemporain. Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion, 2022.

Hunyadi, Mark: Le temps du posthumanisme. Un diagnostic d’époque, Paris: Les belles lettres, 2018.

Kasprowicz, Dawid/Rieger, Stefan: „Einleitung: eine neue Standortbestimmung“, in: Kasprowicz, Dawid/Rieger, Stefan (Hrsg.): Handbuch Virtualität. Wiesbaden: Springer 2020, S. 2–22.

Le Breton, David: Anthropologie du corps et modernité. Paris: PUF 2000.

López-Pesilla, Teresa: Patologías de la realidad virtual. Cibercultura y ciencia-ficción. Madrid: Fondo de Cultura Económica, 2015.

Maftei, Mara Magda (Hrsg.): Transhumanisme et fictions posthumanistes, in: Revue des Sciences Humaines, 341, Januar-März 2021.

Stierle, Karlheinz: „Fiktion“, in: Barck, Karlheinz/Fontius, Martin/Wolfzettel, Friedrich/Steinwachs, Burkhart (Hrsg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Band 2, Stuttgart/Weimar: Metzler 2002, S. 380–428.

Winnicott, Donald: „Distorsion du moi en fonction du vrai et du faux ‘self’“, in: Processus de maturation chez l’enfant: développement affectif et environnement, aus dem Englischen übersetzt von Jeannine Kalmanovitch. Paris: Payot 1983, S. 115-131.