Sektion 17

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Nacktes Leben: Textuelle Vereinnahmungen und Resistenzen gegen die Schrift in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Romania

Haus 3, Seminarraum 224 | Building 3, Room 224

Sektionsleitung und Kontakt:
Stephanie Béreiziat-Lang (Heidelberg), E-Mail: stephanie.lang@rose.uni-heidelberg.de
Romana Radlwimmer (Frankfurt), E-Mail: radlwimmer@em.uni-frankfurt.de

Liste der Vortragenden und Vortragstitel
Abstracts
Zeitplan

Im ‚nackten Leben‘, das seit der griechischen Antike als zoē (die „natürliche“ Tatsache des Lebens) definiert und dabei von bios (der kulturell-politisch geprägten Qualität dieses Lebens) überlagert wird (Aristoteles 2010, Foucault 1994, Agamben 2005), laufen In­sze­nierung und Beschreibung, Erfahrung und Reflexion auf komplexe Weise inein­ander. Doch sind zoē und bios mit Präsenz und Virtualität gleichzusetzen? ‚Nacktes Leben‘ er­scheint als undiszipliniert, es passiert an Rändern, ist aber untrennbar an jene Macht gebunden, die es sich einverleibt. Eine solche Kontrollinstanz stellen in der mittel­alter­li­chen und frühneuzeitlichen Romania – und den Schauplätzen ihrer Expansion – die Schrift und die Debatten um ihren Status und ihre Ausformungen dar. Bis ins 17. Jahrhundert hin­ein etwa ist das ‚nackte Leben‘, dessen Akteure als vogelfrei gelten, der Rhetorik und Praxis willkürlicher Verhaftung unterworfen (Agamben 2005). Im Akt des Benennens und Fixierens entfremdet und verdeckt die Schrift Daseinsformen, wogegen sich das ‚nackte Leben‘ – vergeblich? – aufbäumt. Dieser Prozess – und damit die Bezie­hung zwi­schen zoē und bios – ist ambivalent: seit Platons Phaedros ist die Schrift ein Medium, das Abwesenheit markiert und Unmittelbarkeit abtötet, gleichzeitig aber das Leben über Distanzen hinweg gegenwärtig macht (Derrida 1967). Im kolonialen Kontext ziehen euro­päische Schreibnormen gemeinsam mit den neu oktroyierten Regierungsweisen ein und überschreiben die körperliche ‚Erfahrung‘ durch juristische, theologische oder natur­philo­sophische Diskurse oder poetisch-literarische Muster. So geht der Mecha­nis­mus der ‚Vertextung‘ notwendigerweise über das Einzelsubjekt hinaus und eignet sich das Recht an, im abstrahierten textuellen Rahmen über Leben und Tod des sozialen Kör­pers zu verhandeln. Schrift und Textpraxis können damit als gewaltige ‚biopolitische‘ Ma­schi­nerie avant la lettre angesehen werden, die die körperliche Präsenz auf einen anderen Modus der Verfügbarkeit verschiebt: die Zirkulation von Schrift und Ge­schrie­benem. Diese Maschinerie ist gegenwärtig und zugleich phantomgleich (Arendt 1995, Mbembe 2003): „[Le] [d]roit de mort et pouvoir sur la vie […] [est] marqué par le jeu essentiel de la présence et de l’absence, du caché et du manifeste“ (Foucault 1994). Der schriftbasierte „apparatus of bodily production“ sieht grundsätzlich ab von einer „im­mediate presence […] of […] a biomedical body at a particular historical juncture“ (Haraway 1989). Die tex­tu­elle Vereinnahmung des ‚nackten Lebens‘ ersetzt dabei selbst dessen Präsenz mit einer „language of pure force [and] immediate presence“ (Mbembe 2003). Denn obwohl Bio­po­litik Lebensbedingungen produziert, will sie zuweilen selbst als ‚nacktes Leben‘ er­scheinen: „This […] non-presence […] takes on [an] empirical […] dimension“ (Virno 2001). Re­sistenzen gegen die Schrift verhandeln daher die Kategorien von Präsenz und Virtua­li­sierung neu, etwa indem sie schriftgestützte Praktiken unter­laufen und auf andere als schriftliche Medien rekurrieren. Auch im Text selbst kann eine alternative Zei­chen­haf­tigkeit oder performative Sinngenerierung gegenüber der hege­mo­nialen (Re)produktion von Leben und Tod angelegt sein. Körperliche (eingeritzte oder auf­getragene) ‚In­schrift­lichkeit‘ (Béreiziat-Lang/Ott 2019) nimmt an der Schwelle zur Frühen Neuzeit mit der sich wandelnden Textvervielfältigung (eine Maßnahme der ‚Vir­tualisierung‘?) an Sub­ver­si­vität zu. Im kolonialen Kontext rivalisieren auf sinnliche Prä­senz ausgerichtete Zeichen- und Sinnsysteme mit der Textproduktion der Eroberung (Boone/Mignolo 1994).

In diesem Panorama eröffnet die mittelalterliche und frühneuzeitliche Literatur einen un­stabilen Ort, der das Sein fiktional überschreibt und in textuelle Parameter ‚einsperrt‘, der aber, in der ästhetisierenden ‚Virtualisierung‘, mögliche Wege abseits von etablierten Denk- oder Schreibmustern und Machtstrukturen unterstreicht. Die körperliche Präsenz mit ihrer ‚materialen‘ Wucht (Bennett/Joyce 2010) – Haut und Haar, Erreger und Bak­terien, Erotik, Gewalt und Wahnsinn – wird diskursiv ‚gezähmt‘; sie entfaltet jedoch im Text auch eine scheinbare Unmittelbarkeit (Gumbrecht 2004), die sich gegen das Macht/Text­gefüge sperrt. Gehorchen beispielsweise die vaginalen Eingriffe der Celestina – „Esto de los virgos, vnos facía de bexiga e otros curaua de punto. […] [Q]uando vino […] el embaxador francés, tres vezes vendió por virgen vna criada“ [sic] (Rojas 2003) – jenem Kalkül, das organische und soziale Körper reguliert? Gegen welche Vermessungen pro­tes­tie­ren die grotesken Leiber Rabelais’, und welches Eigenleben entwickeln sie in ihrer hu­ma­nistischen Rahmung? Wie handelt Jean de Lérys Histoire d’un voyage en la terre du Brésil die Tupi-Körperlichkeit gegen Zivilisationsversuche aus? Und welche ‚Bio­politik‘ verfolgt La Araucanas Erzähler, der indigene Anwesenheit im narrativen Vorgang aus­löscht und sich in die fiktionale Welt mythologisierender imitatio flüchtet: „¿Todo ha de ser batallas y asperezas, (…) / muertes, destrozos, riñas, crueldades; que al mismo Marte ya pondrían hastío, / agotando un caudal mayor que el mío?“ (Ercilla 2009). Gerade in den Schriften romanischer Expansion des 16. und 17. Jahrhunderts – nach Jáure­gui/Solodkov (2020) die größte biopolitische Unternehmung der Frühen Neuzeit – wer­den Gegen­wär­tig­keit und gelebte Erfahrung zu topischen Textstrategien der imperialen Schrift­praxis.

Diese Sektion untersucht das ‚nackte Leben‘, seine textuelle Vereinnahmung und Re­sis­ten­zen gegen die Schrift besonders hinsichtlich dreier Felder:

  1. Identifizierung: In welchen Formen erscheint das ‚nackte Leben‘? Welche ana­to­mi­schen und sozialen Körper, menschlichen, animalischen, lebenden, toten Leibe bevölkern Literatur und Künste? Welche Triebe, Affekte, Potenz, Fort­pflan­zungen, Viren, Krankheiten, welches Siechen und Sterben generiert das ‚nackte Leben‘? Wo und wann passiert das ‚nackte Leben‘ und welche Ausdrucksformen sind ihm zugeordnet?
  2. Beherrschung: Wie wird das ‚nackte Leben‘ gebändigt, klassifiziert und admi­nis­triert, ‚angezogen‘? Welche Rolle spielen dabei die Schrift und die Praktiken von Handschriftlichkeit, Druck oder Edition? Und umgekehrt, in wel­chen Momenten gibt sich Schrift selbst als ‚nacktes Leben‘, Virtualität als Präsenz aus?
  3. Resistenz: Wo verteidigt sich körperlich-sprachlich-performatorische Unmittel­bar­keit gegenüber einer medialen Virtualisierung? Wie trotzen die materielle Sub­stanz und das ephemere Nicht-Speicherbare – von Gesten, Oralität, Bewegung, Tanz oder Gesang – ‚biopolitischen‘ Strukturen der Verschriftlichung? Und in­wie­weit verändert sich eine ‚Präsentifizierung‘ bei dem sich wandelnden Schrift- und Texthabitus zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit?

Diese drei Felder lassen sich mit folgenden weiterführenden Fragen verknüpfen:

  1. Produktion: Ist Präsenz mit Literatur überhaupt kompatibel? Lässt sich litera­ri­sche Überformung, topische Stilisierung oder imitatio als ein ‚Effekt‘ (Barthes 2002) der Virtualisierung fassen? In welcher Weise produziert bereits das Be­schrei­­ben eine Distanzierung von den ‚nackten‘ Tatsachen und überführt (Er)Leben in den Möglichkeitsraum der Stilisierung? Wo wiederum verschlingt das ‚nackte Leben‘ die Schrift?
  2. Subjektivierung/Objektivierung: Modelliert die Subjektposition Widerstand? Lehnt ‚Er­fahrung‘ (von Schmerz, Subalternität, etc.) sich effektiv gegen jene Ent­per­sönlichung auf, die Leben und Tod ‚objektiv‘ taxonomiert? Können auto­(bio)­gra­phisches Schreiben oder andere mediale Performances als Strategien der ‚Prä­sen­ti­fizierung‘ gelten?
  3. Rezeption: Welches rezeptionsästhetische Potential bietet die Aufführung ver­meint­­­licher Unmittelbarkeit? Welche Irritationen oder Identifikationen gehen mit der Vertextlichung (oder Verbildlichung) ‚nackten Lebens‘ einher?

Die Sektion richtet sich an Beiträge, die an romanischen Literaturen und anderen Kunst­formen des ca. 13. bis 17. Jahrhunderts das Spannungsverhältnis von ‚biopolitischer‘ Schrift­lichkeit und ‚nackter‘ Unmittelbarkeit kritisch ausloten.

Bibliographie

Agamben, Giorgio (2005): Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vida. Torino: Einaudi.

Arendt, Hannah (1995): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt a. M.: Europäische Verlagsanstalt.

Aristoteles (2010): Politik. Schriften zur Staatstheorie, übersetzt und hg. von Franz Ferdinand Schwarz, Reclam: Stuttgart.

Barthes, Roland (2002): „L’ effet de reel“, in: Ders.: Oeuvres complètes III: 1968-1971, hg. von Eric Marty, Paris: Seuil, S. 25-32.

Bennett, Tony / Joyce, Patrick (2010): „Material Powers. Introduction“, in: Dies. (Hgs.), Material Powers. Cultural Studies, History and the Material Turn, London/New York: Routledge, S. 1-21.

Béreiziat-Lang, Stephanie / Ott, Michael R. (2019): „From Tattoo to Stigma. Writing on Body and Skin“, in: Wagner, Ricarda / Neufeld, Christine / Lieb, Ludger (Hgs.): Writing Beyond Pen and Parchment. Inscribed Objects in Medieval European Literature, Berlin/Boston: De Gruyter, S. 193-207.

Boone Hill, Elizabeth / Mignolo, Walter D. (Hgs.) (1994): Writing Without Words: Alternative Literacies in Mesoamerica and the Andes, Durham/London: Duke University Press.

Derrida, Jacques (1967): De la grammatologie. Paris: Minuit.

Ercilla, Alonso de (2009): La Araucana, hg. von Isaías Lerner. Madrid: Cátedra.

Esposito, Roberto (2002): Immunitas. Protezione e negazione della vita. Torino: Einaudi.

Foucault, Michel (1994): La volonté de savoir. Paris: Gallimard.

Gumbrecht, Hans Ulrich (2004): Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

Haraway, Donna (1989): „The Biopolitics of Postmodern Bodies: Constitutions of the Self in Immune System Discourse“, in: differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 1/1, S. 3-43.

Jáuregui, Carlos / Solodkow, Davíd (2020): „La utopía biopolítica: Bartolomé de las Casas y la gestión de la vida indígena en el Memorial de remedios para las Indias (1516)“, in: A Contracorriente. Una revista de estudios latinoamericanos 18/1, S. 26-56.

Mbembe, Joseph-Achille (2003): „Necropolitics“, translated by Libby Meintjes, in: Public Culture 15/1, S. 11-40.

Rojas, Fernando de (atrib.) (2003): La Celestina, hg. von Marta Haro, Rafael Beltrán und José Luis Canet, Alicante: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes, <https://www.cervantesvirtual.com/nd/ark:/59851/bmcxd183> [Zugriff am 29.05.2022].

Virno, Paulo (2001): Grammatica della moltitudine. Per una analisi delle forme di vita contemporanee, Roma: DeriveApprodi.