Verdichtung und Auffächerung. (Übersetzte) Literatur zwischen Präsenz und Virtualität
Haus 3, Seminarraum 127 | Building 3, Room 127
Sektionsleitung und Kontakt:
Marco Agnetta (Innsbruck), E-Mail: marco.agnetta@uibk.ac.at
Hannah Steurer (Saarlandes), E-Mail: h.steurer@mx.uni-saarland.de
Liste der Vortragenden und Vortragstitel
Abstracts
Zeitplan
Die Geschichte eines literarischen Werks vereint drei Momente, die seine Deutung maßgeblich bedingen: Genese, Gestalt und Rezeption. Die Erforschung dieser drei Momente, deren erstes und letztes als gerichtete Tätigkeit aufzufassen sind, lässt Rückschlüsse auf das Verhältnis zwischen Präsenz und Virtualität zu, indem – vom Werk ausgehend – nach dem Potenzial bzw. der Vielfalt hinter dem Vorliegenden gefragt wird. Eine Form der Rezeption, die selbst zu einem Folgetext führt und damit die Grenze zwischen Rezeption und poetischer Produktion aufhebt, ist die literarische Übersetzung. Wie bei Originalproduktionen steht auch bei diesem Phänomen die Aushandlung von Formulierungen im Vordergrund, mit dem Unterschied, dass Übersetzungen per definitionem den Vergleich mit einem Prätext stets provozieren.
Hinsichtlich der Werkgenese lässt sich fragen, inwiefern das Tun von Dichter:innen als Entscheidungsprozess aufzufassen ist, in dem potenziell unendliche Vertextungsmöglichkeiten in Betracht gezogen, angewendet oder verworfen werden. Literarische Produktion bzw. Dichtung ist dabei nicht selten im wahrsten Sinne eine „Ver-dichtung“, d. h. ein Verfahren, mit dem – semiotisch gesprochen – die Vielfalt (des Sinns) durch eine begrenzte Anzahl an Zeichen abgebildet wird, vor allem in durch besondere Verdichtungsstrategien geprägten kleinen Formen. Virtuellen Größen wird in u. U. langwierigen Aushandlungsprozessen eine Gestalt gegeben und auf diese Weise Präsenz verschafft – exemplarisch z. B. sichtbar in Raymond Queneaus Cent mille millards de poèmes: Auf engstem Raum entsteht dort eine kombinatorische Dichtung, die in der Vielzahl der virtuellen Gedichte innerhalb der Dauer eines menschlichen Lebens nicht erfasst werden kann. Im Grunde handelt es sich bei solchen literarischen Verdichtungsstrategien um eine besondere Form der sprachlichen Effizienz. Auch die Übersetzung ist spätestens mit Umberto Eco (Dire quasi la stessa cosa. Esperienze di traduzione, 2003) als Entscheidungs- und (durchaus im juristischen Sinne) als Aushandlungsprozess charakterisiert worden. Hierin zeigt sich die Parallelität zwischen Originalkreation und Transkreation (Sattler-Hovdar 2016).
Der literarische Text selbst – in Original und Übersetzung – kann als winziger ‚Präsenz- splitter‘ in einer zyklischen Bewegung aus Verdichtung und Auffächerung aufgefasst werden. Insofern die Werkgestalt stets Referenzpunkt der Produktions- und Rezeptionstätigkeit bleibt, ist sie nicht nur Artefakt, sondern Teil performativer Prozesse und auch in dieser Hinsicht Kristallisationspunkt einer Virtualität der Möglichkeiten: In ihr konvergieren die Verdichtungstendenzen der Dichter:innen, die in Werkfragmenten und obsoleten Werkfassungen erprobt wurden. Welche ist zum Beispiel die für moderne Rezipient:innen ‚endgültige‘ Fassung der vielbearbeiteten und an unterschiedlichen Stellen auch einzeln publizierten Gedichte eines Eugenio Montale, der z. B. im Titel der Ossi di seppia ein Moment des Fragmentarischen und der Spurensuche markiert. An der Werkgestalt entfachen sich multiple Deutungen durch die verschiedensten Rezipient:innen (Autor:in miteingeschlossen). Als Ergebnis und zugleich Ausgangspunkt von Sinngebungsprozessen hält das Werk einen Diskurs in Bewegung, den etwa Gadamer dessen ‚Wirkungsgeschichte‘ nennt. Zu ihr gehören Epitexte wie (Neu-)Übersetzungen als multiplizierende Wegpunkte zwangsläufig dazu. Gerade die Neu- oder Wiederübersetzung veranschaulicht die Virtualität der Textproduktion in besonderem Maße.
Die Werkrezeption stellt sich als zum Dichtungsprozess komplementäre Tätigkeit heraus, in der das Verdichtete in der Lektüre nachvollzogen wird und Denk- sowie Assoziationsprozesse in Gang bringt, die als Auffächerung aus der Präsenz des Textes die Virtualität seiner Kontexte freilegen. Phänomene wie Leerstellen, offene und verdeckte intertextuelle Bezüge werden Gegenstand von Deutungen, Spekulationen, Auseinandersetzungen und Skandale. Die Deutung ist per se schon kreativ, weil sie beim Rezipienten neue Bewusstseinsinhalte generiert. Die Rezeption kann sodann in die Genese eines neuen Werks übergehen, insbesondere im Kreationsprozess der Übersetzung.
In unserer Sektion möchten wir dem oben beschriebenen Zusammenhang von Verdichtung und Auffächerung an Beispielen von Literatur der Romania und ihrer Übersetzung nachgehen und dabei Literatur- und Translationswissenschaft zusammenführen. Neben Vorträgen, die in einer der Disziplinen verortet sind, sind wir besonders offen für Themenvorschläge, die beide Forschungsbereiche zusammenführen. Auch ‚Tandemvorträge‘, in denen zwei Personen einen Text und seine Übersetzung einmal aus literaturwissenschaftlicher und einmal aus translationswissenschaftlicher Perspektive in den Blick nehmen, sind willkommen. Mögliche konkrete Fragestellungen umfassen u.a. die folgenden Bereiche – zu denen es sicher zahlreiche Ergänzungen gibt:
Von der Virtualität zur Präsenz: Werkgenese
- Welche Möglichkeiten und Parallelen weisen Dichtungs- und Übersetzungs- prozess(-forschung) auf? Welche Dokumente und Textgattungen geben Auskunft über Text- und Übersetzungsgenese (Vorworte, Korrespondenzen)?
- Gibt es in der literarischen und übersetzerischen Praxis die eine stabile und definitive Textform mit besonderer Autorität?
- Wo schreiben sich Überlegung zur Genese literarischer Texte in Autoinszenierungen ihrer jeweiligen Verfasser:innen ein (z. B. durch die Selbstpräsentation von Textentwürfen, in der Onlinepräsenz von Autor:innen etc.)?
- Wie beurteilen Autor:innen die Übersetzung ihrer eigenen Werke? Wie positionieren sich Übersetzer:innen in ihren Neuübersetzungen und Bearbeitungen gegenüber bereits existierenden Übersetzungen desselben Ausgangstexts?
Die Virtualität in der Präsenz: Werkgestalt
- Welche Verfahren der Verdichtung lassen sich an der Werkgestalt ablesen (sprechende Namen, Titel, Rhythmen, Textgestaltung etc.)?
- Inwiefern erwächst aus der verdichteten Präsenz des Textes auch ein Freiraum für eine Sinnauffächerung im Spiel mit Lektüreerwartungen (durch unzuverlässige Erzählinstanzen, falsche Fährten, Leerstellen etc.)?
- Wie definitiv ist die Werkgestalt? Wo manifestieren sich die Virtualität des Präsentischen und die Präsenz des Virtuellen? Gibt es Texte, Textelemente und Übersetzungen, die von einer dynamischen Auffassung dessen zeugen, was ein Werk ausmacht? Wie wird dies in den Texten selbst oder dem sie begleitenden Diskurs (Aufzeichnungen, Kritiken, Paratexte) thematisiert?
- Wie gestaltet sich eine vergleichende Semantik des Mehrdeutigen, der Leerstelle, der intertextuellen Bezüge in Original und Übersetzung?
Von der Präsenz zur Virtualität: Werkrezeption
- Inwiefern beinhalten und bedingen (Folge-)Texte wie Korrespondenzen, Tagebucheinträge, Kritiken, Übersetzungen, literarische und filmische Weiter- verarbeitungen die Deutung eines Prätextes?
- Welchen Anteil daran hat der Buchmarkt mit seinen eigenen Peri- und Epitexten (Klappen- und Werbetexte, Coverabbildungen, Korrespondenz von Autor:innen und Übersetzer:innen)?
- Inwiefern ist der Austausch von Dichter:innen und Übersetzer:innen eine Aushandlung? Mit welchen Dokumenten lässt sich diese bezeugen?
- Welchen Übersetzungsmaximen folgen Dichter:innen, die Dichter:innen übersetzen? Inwiefern sind Dichtung und Dichter:innenübersetzung vergleichbar?
Bibliographie
Eco, Umberto (2003): Dire quasi la stessa cosa. Esperienze di traduzione. Mailand: Bompiani.
Gadamer, Hans-Georg (1960/2010): Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen: J. C. B. Mohr, Paul Siebeck.
Sattler-Hovdar, Nina (2016): Translation – Transkreation. Vom Über-Setzen zum Über-Texten. Berlin: BDÜ Fachverlag.