Präsenzgeschichte(n) – Virtuelle Realitäten im Theater der Frühen Neuzeit
Haus 3, Seminarraum 28 | Building 3, Room 28
Sektionsleitung und Kontakt:
Johanna Abel (ZfL Berlin), E-Mail: abel@zfl-berlin.org
Jenny Augustin (Düsseldorf), E-Mail: jenny.augustin@hhu.de
Liste der Vortragenden und Vortragstitel
Abstracts
Zeitplan
Nach der jüngsten Erfahrung von Präsenz-Entzug geht die „seit 1990 intensivierte Präsenzdiskussion“ nun in eine neue Runde (Kiening 2007: 20). Im Kontext einer geisteswissenschaftlichen Einordung lässt sich mit Robert Orsis History and Presence (2016) in Erinnerung rufen, dass auch Präsenz eine lange, kontroverse Geschichte hat. Mit der Frühen Neuzeit und ihrer so genannten Krise der Repräsentation entstehen Orsi zufolge multiple Präsenzgeschichten, aus denen sich die Moderne über ein unseeing begründet (ebd.: 252). Gumbrecht war zur Klärung des präsentischen Erlebens und der räumlichen Dimension von Epiphanie ausgerechnet von Calderóns Barock-Dramen und vor allem vom auto sacramental, dem Geistlichen Spiel der Gegenreformation, als kulturellem Paradigma ausgegangen (Gumbrecht 2004: 133). Diesen Impuls aufgreifend, fragt die geplante Sektion nach dem Verhältnis von Präsenz und Virtualität im Theater der Frühen Neuzeit. Die Besonderheit der Gattung Theater liegt darin, dass sowohl der Text als auch die Aufführungspraxis auf die Bedeutung von Präsenz und Virtualität hin untersucht werden können. Sie bietet daher viele Möglichkeiten, die Aktualisierungen des Präsenzbegriffes und die Rückübertragung moderner Virtualitätsverständnisse zu überprüfen.
Aufbauend auf Gumbrecht kann mit Largier am Beispiel des Theaters und seiner Präsenzeffekte gezeigt werden, wie Verlebendigung und Gegenwärtigkeit einerseits als „rhetorische Animation der Sinne“ (Largier 2005) und andererseits über intermediale Animationsformate in der Aufführungspraxis erzeugt werden können (Jakstat/Gebhardt/Abel 2021: 180). Der Sprache kommt bei der „Produktion absorbierender Gegenwart“ (Largier 2005: 393) eine zentrale Rolle zu, aber auch der Körper zeichnet das Medium Theater aus, denn bei der Aufführung treten die Schauspieler:innen und das Publikum in eine körperliche Ko-Präsenz (vgl. Kolesch 2005: 251).
Das Virtuelle (von lt. virtus ‘Wirkkraft’) ist seit dem 14. Jahrhundert synonym mit dem Impliziten, so spricht Thomas von Aquin beispielsweise von dem „virtuellen Enthaltensein (‚virtualis continentia‘)“ (Knebel 2007: o.S.). In der Naturphilosophie bezeichnet der Begriff Immaterielles und Nichtextensives. Seit dem 15. Jahrhundert ist der Terminus ‚Virtualität‘ auch in den Nationalsprachen gebräuchlich, Leibniz nennt die angeborenen, nicht explizit sichtbaren Ideen „virtualités naturelles“ (ebd.; vgl. auch Schüßler 2008: 661).
Während das seit den 1980er Jahren zu einem Schlagwort der Kultur- und Medientheorie avancierte Konzept der ‚virtuellen Realität‘ vor allem „audiovisuelle und taktile Simulationstechnologien“ (Grötker 2007: o.S.) beschreibt, kann das Prinzip der medialen Erschaffung neuer Ordnungen und potentieller Welten (vgl. ebd.) für das Theater der Frühen Neuzeit fruchtbar gemacht werden.
In der frühneuzeitlichen Romania avanciert neben dem religiösen das weltliche Theater zu einem gesellschaftlich bedeutenden Ort der Kulturerfahrung und Begegnung. Zum einen treffen hier unterschiedliche soziale Schichten aufeinander, zum anderen wird das Theater als effektives Mittel zur ideologischen Affektlenkung erkannt und gefördert (vgl. Maravall 1990: 13). Als in Frankreich zu Zeiten der Religionskriege bereits 1548 die Mysterienspiele verboten werden, entstehen vermehrt hybride Formen zwischen religiösem und weltlichem Theater. So erhalten z.B. als farce oder comédie bezeichnete Theaterstücke noch immer religiöse Themen und lassen die wichtigen Allegorien der Zeit auftreten (vgl. Salliot 2013: o.S.). Das ab dem 16. Jahrhundert populär werdende weltliche Theater erzeugt Präsenzeffekte u.a. durch verlebendigte Objekte. Die in der Frühen Neuzeit noch gültige Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Realitäten zeigt sich daran, dass das Jenseits in den Handlungsverlauf eingreifen kann, z.B. durch die plötzliche Präsenz einer ordnungsstiftenden Figur als deus ex machina. Andere Figuren wie Schatten und Doppelgänger inszenieren das zunehmende Spannungsverhältnis zwischen Präsenz und Virtualität.
Auch in der Poetik und Literaturtheorie der Frühen Neuzeit finden sich Hinweise auf das Miteinander von Präsenz und Virtualität. Lope de Vega plädiert in seinem Arte nuevo de hacer comedias en este tiempo (1609) für ein Theater, das den Geschmack des einfachen Volkes, also auch seine Vorlieben für Schaufrömmigkeit und Wundererzählungen berücksichtigt, und die technisch auf modernsten Stand gebrachte Bühnenmaschinerie einsetzt. Diese wird vom Italiener Niccolo Sabbatini in seiner Pratica di fabricar scene e machine ne’ teatri (1637) detailliert, geradezu mathematisch beschrieben und zum Fundament des Theaters erhoben. Die durchdachte Bühnenarchitektur und der Einsatz von Lichteffekten, Tüchern sowie Flaschenzügen erzeugen eine theatralische Illusion und ermöglichen die Präsenz des Überirdischen im Bühnenspektakel (vgl. Felten u.a. 1992: 203).
Für eine transkulturelle Perspektive auf das Verhältnis von Präsenz und Virtualität im Theater der Frühen Neuzeit spricht die literaturgeschichtliche Modellposition Italiens sowie der Einfluss des spanischen Theaters auf das französische Theater bis Mitte des 17. Jahrhunderts. Hier ist es von besonderem Interesse, die Unterschiede und Spezifika der einzelnen Länder, auch der außereuropäischen Romania, zu untersuchen. Aus einer globalen Perspektive kann gefragt werden, wie die in den kolonisierten Expansionsräumen Europas verfassten Theaterstücke mit Präsenz umgehen – so lässt sich z.B. die Reduzierung von Überwältigungseffekten in den autos sacramentales von Sor Juana Inés de la Cruz als multididaktische Überwindung von spanischen Vorbildern und Kolonialdiskursen deuten (Ventarola 2018).
Zeitlich betrachtet ermöglicht die Sektion einen Ausblick auf den geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Wandel im Übergang von der Frühen Neuzeit zur Aufklärung. Zum Ende der Frühen Neuzeit ist die Präsenz nicht länger als Darstellungsmittel legitim, wie sich exemplarisch daran zeigt, dass die autos sacramentales in Spanien im Jahre 1765 verboten werden (vgl. Schütz 2011: 205). Hier ist von Interesse zu erörtern, wie die Techniken und Darstellungsmittel der Präsenz weiterleben, ob z.B. die Formen der Präsenz zu Verfahren der Virtualität abgeschwächt werden, um weiter bestehen zu können. Zudem ließe sich untersuchen, inwiefern der Latenzbegriff an Relevanz gewinnt.
Mögliche Themen können sein:
- Die Bedeutung verlebendigter Objekte (z.B. Steinfiguren, Gemälde) und der Einsatz von Animationstechniken im Theater der Frühen Neuzeit. Wie gehen die Stücke mit der impliziten Gefahr um, die Grenze zur Idolatrie zu überschreiten?
- Die Verhandlung von Präsenz und Virtualität in der Poetik bzw. Literaturtheorie der Frühen Neuzeit.
- Kulturelle Spezifika und transkulturelle Überschneidungen: Welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten finden sich bei der theatralen Erzeugung von Präsenz? Inwiefern dienen Präsenzeffekte als Mittel der nationalen Konstituierung, in Bezug auf Spanien, Frankreich und Italien, aber auch global gedacht? Wie integrieren Autor:innen Präsenz und Virtualität in den kolonialen Kontext ihrer Werke?
- Gemeinsamkeiten und Unterschiede von religiösem und weltlichem Theater (z.B. auto sacramentales / sacre-rappresentazione / mystère, comedias / commedia dell’arte / comédie / tragi-comédie). Wie gelingt es, in hybriden Formaten das religiöse und weltliche Theater zu verbinden?
Arbeitssprache der Sektion ist Deutsch. Beiträge auf Spanisch oder Französisch sind ebenfalls willkommen.
Bibliographie
Felten, Hans u.a. 1992. „Seicento,“ in: Dies. (Hg.). Italienische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, S. 174-212.
Grötker, Ralf. 2007. „Virtuelle Realität,“ in: Joachim Ritter u.a. (Hg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel: Schwabe Verlag.
Gumbrecht, Hans Ulrich. 2004. Diesseits der Hermeneutik. Über die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Gumbrecht, Hans Ulrich. 2009. Präsenz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Jakstat, Sven/Johannes Gebhardt/Johanna Abel. 2021. Präsenzeffekte. Die Inszenierung der Sagrada Forma im Real Monsaterio de El Escorial. Göttingen: Wallstein.
Kiening, Christian (Hg.). 2016. „Mediale Gegenwärtigkeit. Paradigmen – Semantiken – Effekte,“ in: ders. (Hg.) Mediale Gegenwärtigkeit. Zürich: Chronos.
Knebel, Sven K. 2007. „Virtualität,“ in: Joachim Ritter u.a. (Hg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel: Schwabe Verlag.
Kobusch, Theo. 2007. „Präsenz,“ in: Joachim Ritter u.a. (Hg.). Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel: Schwabe Verlag.
Kolesch, Doris. 2005. „Präsenz,” in: Erika Fischer-Lichte u.a. (Hg.). Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler.
Largier, Niklaus. 2005. „Präsenzeffekte: Die Animation der Sinne und die Phänomenologie der Versuchung, “ in: Poetica, 37, 3/4, S. 393-412.
Lope de Vega Carpio, Félix. 62018. Arte nuevo de hacer comedias. Hg. Enrique García Santo-Tomás. Madrid: Cátedra.
Maravall, José Antonio. 1990. Teatro y literatura en la sociedad barroca. Barcelona: Crítica.
Orsi, Robert A. 2016. History and Presence. Cambridge, MA/London: Harvard University Press.
Sabbatini, Niccolo. 1637. Pratica di fabricar scene e machine ne’ teatri. Flaminio Concordia.
Salliot, Natacha. 2013. „Théâtre et dissidence religieuse au XVIe siècle: la représentation des élus,“ in: Les Dossiers de Grihl. <https://doi.org/10.4000/dossiersgrihl.5872>
Schüßler, Werner. 2008. „Virtuell,“ in: Peter Prechtl/Franz-Peter Burkard (Hg.). Metzler Lexikon Philosophie. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, S. 661.
Schütz, Jutta. 2011. „Das 18. Jahrhundert,“ in: Hans-Jörg Neuschäfer (Hg.). Spanische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, S. 185-235.
Ventarola, Barbara. 2018. „Multi-Didaxis in the Drama of Lope de Vega and Sor Juana Inés de la Cruz,“ in: Joachim Küpper/Leonie Pawlita (Hg.). Theatre Cultures within Globalising Empires. Looking at Early Modern England and Spain, Berlin/Boston: De Gruyter.