Orte der Modernisierung, Wandel der Wahrnehmung: Phantastische Technologien und Techniken des Phantastischen (ca. 1840-1940)
39. Romanistiktag Universität Konstanz | 22.–25. September 2025
Sektionsleitung und Kontakt
Sarah Burnautzki (Universität Heidelberg)
Jobst Welge (Universität Leipzig)
Im 19. Jahrhundert setzt ein Modernisierungsprozess ein, der in allen romanischen Sprachräumen seinen literarischen Widerhall findet. Die Industrialisierung, Urbanisierung, Mechanisierung/Automatisierung, große Infrastrukturprojekte, Beschleunigung in Verkehr und Transport, neue Bauweisen, technische Innovationen und naturwissenschaftliche Entwicklungen verändern das Leben nicht nur in Paris, Madrid, Lissabon, oder Mailand, sondern auch in Buenos Aires, Santiago de Chile, Montevideo, Havanna, Mexiko-Stadt, Rio de Janeiro und São Paulo.
Ausgehend von der Prämisse, dass phantastische literarische Formen von ihrer Einbettung in realistische Kontexte leben, werden wir uns in dieser Sektion mit den narrativen (und poetischen) Symbiosen, Wechselwirkungen und Grenzbereichen von Realismus und Phantastik rund um Phänomene technischer Entwicklung beschäftigen. Wie P. García gezeigt hat, lassen sich urban-technische Entwicklung und phantastische Erzählweisen als parallele Entwicklungen verstehen, wobei dies sowohl in Richtung rationaler Kontrolle, als auch in Richtung einer irrationalen (oder okkulten) Tendenz gehen kann (14). Dabei soll es nicht ausschließlich um ‚klassische‘ Texte der literarischen Phantastik (etwa im Sinne T. Todorovs) gehen, sondern um ein breites Formen- und Epochenspektrum, das vom Realismus zum Fin-
de-siècle, zu den Avantgarden und darüber hinaus reicht. In den Blick genommen werden dabei auch vorderhand realistische Werke, die gleichwohl Elemente des Phantasmagorischen, Unbestimmten, Unheimlichen, oder Übernatürlichen enthalten, die sich an medialen, materialen, oder technischen Neuerungen und deren subjektiven Sinneserfahrungen entzünden und in denen sich Alltäglichkeit und mentale Erregungen oder Ängste vermischen, sodass sich ‚realistische‘ Schreibweisen den Grenzbereichen des Realen öffnen.
Technologisch-visuelle Medien (Film, Photographie), technisch/maschinell produzierte Objekte bzw. induzierte Geräusche, Mensch-Maschine-Konstellationen, wandern seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend als Themen in die Literatur ein, zugleich wird die Produktion und Rezeption von Literatur selbst in mediale Zusammenhänge gestellt oder spiegelt diese wider (z. B. Radio, drahtlose Kommunikation). Während viele dieser Themen bereits im Zuge eines medienwissenschaftlichen Paradigmas behandelt worden sind, möchten wir hier den Fokus vor allem darauf richten, wie technologische oder maschinelle Prozesse und Apparaturen zu neuartigen Sinneswahrnehmungen (visueller, akustischer, kinästhetischer Art) und ambivalenten Affekten führen, die wiederum die ästhetische Dimension und Rezeption von literarischen Texten verändern. Im Rahmen einer historischen Anthropologie und medienarchäologisch informierten Literaturwissenschaft soll es darum gehen, Literatur als Schnittstelle solcher Umbruchserfahrungen zu verstehen, die zugleich das Bild und
Selbstverständnis des Menschen sowie sein Verhältnis zu seiner (technischen, objekthaften) Umwelt, zu Materie und Maschinen, neu ausrichten—dies auch vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen zum Anthropozän oder einem ‚post-anthropozentrischen‘ Interesse an vital matter. Die Erkundung der Grenzbereiche zwischen dem Phantastischen und anderen Formen literarisch vermittelter Technik-Phantasien zielt darauf ab, die Zusammenhänge zwischen narrativer Darstellung, Sinneserfahrung und affektiven Reaktionen breiter und zugleich konkreter, in ihrer jeweiligen örtlichen Situierung, zu erfassen.
Was die jeweiligen geografischen und örtlichen Kontexte der Romania angeht, so sind die hier aufgerufenen Erscheinungen der Moderne also zeitlich und räumlich differenziert zu fassen. Es gilt jeweils zu fragen, inwieweit technische Neuerungen auf besondere Erwartungen oder Hindernisse treffen in spezifischen Umwelten, die sich z. B. als Räume einer ‚verwobenen‘ Modernisierung verstehen lassen (sowohl innerhalb als auch außerhalb Europas, im urbanen oder nicht-urbanen Kontext). Gerade die multiplen und intern differenzierten Räume der Romania sind geeignet, die Zirkulation von technik- und
literaturhistorischen Entwicklungen aus pluralen und ‚situierten,‘ ‚verkörperten‘ Perspektiven zu betrachten, die das Paradigma der Opposition ‚Zentrum‘/‘Peripherie‘ durch ein relationales Verständnis von Austausch in einem internationalen Geflecht von Beziehungen ersetzen.
Für diese Sektion wären von besonderem Interesse Beiträge zu Romanen, Erzählungen, aber auch lyrischen oder filmischen Werken, die sich 1.) technologisch modifizierten (Stadt-)Landschaften widmen, sei es in Bezug auf Phänomene des Verkehrs, der Fortbewegung, der Geschwindigkeit (Pérez Galdós, La novela en el tranvia, 1871; Gabriele D’Annunzio, Forse che sì forse che no, 1910), in Bezug auf Entfremdungserfahrungen in der modernen Großstadt (Roberto Arlt, Los siete locos, 1929) oder Veränderungen der sonorischen oder visuellen Umwelt (Maupassant, La Nuit, 1887; Georges Rodenbach, L’Heure, 1894; cf. P. García). Als weiterer Themenkomplex bieten sich 2.) Texte an, die sich
mit optischen, photographischen oder kinematografischen Illusionen und daraus resultierenden Wahrnehmungsveränderungen oder Erscheinungen des ‚Spektralen‘ beschäftigen (L. Holmberg; L. Lugones; H. Quiroga; F. Hernández; Gómez de la Serna, Cinelandia, 1923; M. Proust, Recherche; Bioy Casares, La invención de Morel, 1940). Ein weiteres, 3.) Thema in diesem Rahmen betrifft unterschiedliche Ausformungen der Konstellation Mensch-Maschine-Milieu (Villiers de L’Isle-Adam, L’Ève future, 1886; Eça de Queiroz, A Cidade e as Serras, 1901; H. Quiroga, El hombre artificial, 1910; Luigi Pirandello, Quaderni di Serafino Gubbio operatore, 1915, F. Hernandez Las Hortensias 1940), darunter auch die menschliche Wahrnehmung maschinell produzierter oder technischer Objekte—und deren Einfluss auf die Produktion und Rezeption von Literatur (Pedro Salinas, Seguro azar, 1928; cf. J. Highfill).
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