Sektion 3

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Störfaktor Technik? Apathisch-empathische Tier-Mensch Beziehungen in der Literatur

39. Romanistiktag Universität Konstanz | 22.–25. September 2025

Sektionsleitung und Kontakt
Janek Scholz (Hebrew University of Jerusalem)
Henriette Terpe (Universität zu Köln)

Die Beziehung zwischen Tieren und Menschen ist seit geraumer Zeit Gegenstand geisteswissenschaftlicher Forschung, davon zeugt das inzwischen auch in Deutschland überaus gut etablierte Forschungsgebiet der human-animal studies (vgl. Chimaira 2011 und Kompatscher-
Gufler/Spannring/Schachinger 2021). Auch innerhalb der (romanistischen) Literaturwissenschaft erfahren Tiermetaphoriken, Tiere als Erzählinstanz und Tier-Mensch-Konvivialität auf inhaltlicher Ebene seit einiger Zeit ein ausgeprägtes Interesse (vgl. Ortiz-Robles 2016 und Borkfelt/Stephan 2023). Spätestens mit der kritischen Befragung humanistischer Ideale durch den philosophischen
Posthumanismus (vgl. Braidotti und Ferrando), teilweise als Antwort auf einen überschwänglich bejubelten Transhumanismus der 1990er Jahre, der den menschlichen Körper durch technische
Erweiterung gänzlich überkommen will zugunsten von Geist und Verstand (vgl. Halberstam/Livingston
1995), wird inzwischen verstärkt danach gefragt, was „das Menschliche“ vom „Nicht-Menschlichen“
unterscheidet und mit welchem Recht der Mensch sich in einer Sonderrolle sieht unter den unzähligen
anderen Wesen des Planeten Erde. Hierbei rückt der Körper zunehmend ins Bewusstsein, genauer der
fühlende Körper, im Kontrast zum funktionalen Körper, der mögliche Symbiosen mit technischem Gerät
eingehen kann und soll.

Unsere Sektion geht den multiplen Beziehungen unter fühlenden Körpern und ihren Darstellungen in der Literatur nach, seien sie nun als menschlich, tierisch oder „mehr-als-menschlich“ klassifiziert. In einer diachronen Perspektive möchten wir darüber diskutieren, wie und ob Technik als ein Störfaktor zu betrachten ist, der ein empathisches Näheverhältnis zwischen den Spezies in ein apathisches Distanzverhältnis umgewandelt hat. Moderne Technik hat einerseits Tiere in ihrer Funktion abgelöst
(der elektrische Weidezaun den Schäferhund, das Auto das Pferd, der Traktor den Bullen usw.),
andererseits wurden auch menschliche Tätigkeiten am Tier durch technische Geräte ersetzt (z.B.
Melkautomaten, Futterautomaten, maschinelle Schlachtung usw.). Aus einem partnerschaftlichen
Verhältnis zwischen Menschen und Nutztieren, das durchaus auch mit räumlicher Nähe einherging,
wurde ein funktionales Verhältnis, das sich durch räumliche Trennung und eine zunehmende
Objektifizierung der Tiere auszeichnet.

Technik als ein prägender Aspekt der Tier-Mensch-Beziehung wurde allerdings schon deutlich früher,
im Zuge der Weiterentwicklung der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert, intensiv diskutiert. Schriften wie Decartes‘ De homine oder de La Mettries L’Homme-Machine wollten sowohl Tiere als auch Menschen als (gefühllose) Maschinen verstanden wissen. Heute, in der ersten Hälfte des 21.
Jahrhunderts, in der die Verschmelzung von Mensch und Technik (KI, Robotik, Cyborg) in immer
greifbarere Nähe rückt und die Zerstörung von tierischen und menschlichen Lebensräumen als
eindeutige Folge zunehmender Technisierung zum globalen Problem wird, ist eine Rückeroberung der
fühlenden Beziehung zum Tierischen sowohl in der theoretischen Debatte erkennbar (vgl. Barad,
Haraway, de la Bellacasa), als auch in der alltäglichen Vermenschlichung zahlreicher Haustiere (eine
Kategorie, unter die zunehmend auch Wildtiere wie Gänse, Eulen, Gleithörnchen und Elche fallen, wie
zahlreiche Videos in den sozialen Netzwerken belegen).

Zeitgenössische Romane diskutieren dieses neu entfachte Nähebedürfnis aus unterschiedlichen
Perspektivierungen, z.B. Samantha Schweblins Kentukis, Camila Sosa Villadas Las Malas oder Anna Luisa Pignatellis Ruggine. Doch auch ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Fühlende Tier-Mensch
Beziehungen und ihre mögliche Beeinflussung durch die (Weiter-)Entwicklung der Technik sind aus
den Literaturen des romanischen Sprachraums nicht wegzudenken. Seien es die Tiere in Boccaccios Decamerone, sei es Don Quijote, der seine Heldentaten niemals ohne Rocinante hätte bestreiten können, oder die Hunde, die in Cervantes „El coloquio de los perros“ die Welt der Menschen analysieren.

Über verschiedene Epochen hinweg zieht sich die enge Beziehung zwischen Dichtern und Vögeln, der
nicht zuletzt Baudelaire mit seinem Albatros ein Denkmal gesetzt hat. In der maßlosen
Technikbegeisterung der historischen Avantgarden (Marinetti) gab es auch mahnende Stimmen, dass die
neue Technik gleichzeitig eine neue menschliche Sensibilität der Lyrik erfordere (César Vallejo, „Poesía
nueva“, 1926). In der Erzählliteratur des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts sind es unter vielen
anderen Julio Cortázar („Axolotl“, „Bestiario“), Guadalupe Nettel (El matrimonio de los peces rojos),
oder Gonçalo Tavares (Animalescos, Agua, Perro, Caballo, Cabeza), die in ihren Texten die komplexen
Beziehungen zwischen Menschen und Tieren ausloten. Dichter:innen wie Elvira Hernández (Pájaros
desde mi ventana) oder Homero Aridjis (Nueva expulsión del paraíso, El poeta en peligro de extinción)
reflektieren, was mit unserer Sprache geschieht, wenn durch das Artensterben mehr und mehr Worte
ihre Bedeutung und ihre Verankerung in der Welt verlieren und welche Rolle die Lyrik in einer
zunehmend zerstörten und entfremdeten Welt spielen kann.

Über ein In-Beziehung-Treten mit anderen fühlenden Wesen wird der Mensch als fühlendes Wesen neu
konturiert und unter Umständen sogar seiner vermeintlichen Sonderstellung enthoben. Inwiefern dies
auch oder nur mittels einer Abkehr von modernen Technologien möglich ist, kann eine von zahlreichen
Diskussionssträngen unserer Sektionsarbeit sein. Weitere Fragestellungen, die sich zur Diskussion
eignen, sind:

  • Wie ist der Mensch historisch mit dem Nicht-Menschlichen um ihn herum in Beziehung
    getreten und wie hat er sich als Mensch abgegrenzt?
  • Wie tritt er im Vergleich dazu mit Technologie in Beziehung? Wie verändert sich dadurch
    seine Beziehung zum Tierischen?
  • Werden diese Beziehungen in literarischen Werken gleich oder verschieden oder sich
    gegenseitig beeinflussend beschrieben?
  • Welche Komponenten der Tier-Mensch-Beziehung blieben im Laufe der Jahrhunderte
    tendenziell eher konstant, welche sind im Wandel?
  • Führt eine Entfremdung von Tieren und anderen fühlenden Wesen durch Technik zu einer
    Entfremdung vom eigenen Körper und damit einhergehend vom eigenen Selbst als fühlendes
    Wesen?
  • Inwieweit kann literarisches Schreiben helfen, die Prozesse der Technisierung kritisch zu
    reflektieren und welche Ansätze gibt es (in Literatur und Theorie)?
  • Sind die Ansätze der human-animal studies überhaupt universalistisch anwendbar oder
    braucht es andere Zugriffsweisen, um spezifisch verortete Tier-Technik-Mensch Beziehungen
    hinlänglich zu beschreiben?
  • Unterscheiden sich Tier-Technik-Mensch Beziehungen im ländlichen von denen im
    städtischen Raum?
  • Wodurch zeichnen sich indigene Tier-Mensch Beziehungen aus und welchem historischen
    Wandel sind sie unterworfen?

Eingeladen sind Beiträge, die sich anhand von Literatur aus dem romanischen Sprachraum mit den
oben genannten Themen beschäftigen. Die Sektionssprachen sind Deutsch, Englisch, Spanisch und Portugiesisch, wobei wir explizit auch Beiträge zu Literatur aus dem gesamten romanischen
Sprachraum willkommen heißen.

Bibliographie
Barad, Karen: Agentieller Realismus. Berlin: Suhrkamp, 2012.

Borkfelt, Sune; Stephan, Matthias (Hg.): Literary Animal Studies and the Climate Crisis. Cham: Palgrave Macmillan, 2022

Braidotti, Rosi: Posthuman Knowledge. Cambridge: Polity, 2019.

Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Bielefeld: transcript, 2011.

de Mello, Margo: Animals and Society. An Introduction to Human-Animal Studies. New York, Columbia University Press, 2012.

Dünne, Jörg: “Interspecific Contact Scenes. Humans and Street Dogs in the Margins of the City”, Mecila Working Paper Series, No. 54. São Paulo: The Maria Sibylla Merian Centre Conviviality-Inequality in Latin America, 2023 [http://dx.doi.org/10.46877/dunne.2023.54].

Ferrando, Francesca; Braidotti, Rosi: Philosophical Posthumanism. New York: Bloomsbury Academic, 2019.

Halberstam, J.; Livingston, Ira (Hg.): Posthuman Bodies. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press, 1995.

Haraway, Donna: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago: Prickly Paradigm Press, 2003.

Haraway, Donna: Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Experimental Futures.
Harrogate: Combined Academic Publishers. 2016.

Hiergeist, Teresa: Tiere der Arena – Arena der Tiere: Neuverhandlungen der Interspezies-Relationen in
den aristokratischen Kampfspielen des „siglo de oro“
. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019.

Kompatscher-Gufler, G., Spannring, R., Schachinger, K.: Human-Animal Studies. Münster; New York:
Waxmann, 2017.

Ortiz Robles, Mario: Literature and Animal Studies. London; New York: Routledge, Taylor & Francis Group, 2016.

Puig de la Bellacasa, María: Matters of Care: Speculative Ethics in More Than Human Worlds.
Minneapolis; London: University of Minnesota Press, 2027.

Scholz, Janek: “Polymorphic bodies between animal and human in Las Malas by Camila Sosa Villada”, in: Berit Callsen/Philipp Seidel (Hg.): Cuerpos diversos: Estéticas de diversidad corporal en
España y América Latina en los siglos XX y XXI
. Tranvía, 2023. 249-269.

Wolfe, Cary (ed.): Zoontologies. The Question of the Animal. University of Minnesota Press, 2003.