Griechisch, Lateinisch und Romanisch revisited – Zur Bedeutung der alten Sprachen und Kulturen für die Romanistik in Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaft und in der Fachdidaktik
39. Romanistiktag Universität Konstanz | 22.–25. September 2025
Sektionsleitung und Kontakt
Lorenzo Filipponio (Università di Genova)
Christoph O. Mayer (Humboldt-Universität zu Berlin)
Daniel Reimann (Humboldt-Universität zu Berlin)
Die Romanistik verdankt ihre Entstehung und ihre Verfasstheit als „komparatistische“ Disziplin den lateinischen Ursprüngen der romanischen Sprachen. Innerhalb der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft, die sich am Anfang des 19. Jahrhundert als eigenständige wissenschaftlich orientierte Disziplin etabliert hatte, war die Romanistik eine Leuchtturm-Disziplin, verfügte sie doch, anders als die indogermanische Sprachwissenschaft, über eine gut dokumentierte Ursprungssprache (vgl. z.B. Kausen 2012). Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war der lateinische Hintergrund der Romanistik unbestrittenes und unumstößliches kulturelles Gepäck jeder Romanistin und jedes Romanisten.
Diese Situation hat sich gewandelt, inzwischen sind an vielen Universitäten und in vielen Bundesländern nicht einmal mehr Lateinkenntnisse Voraussetzung für ein Studium der Romanistik, geschweige denn etwa für ein romanistisches Lehramtsexamen. Aus hochschuldidaktischer Perspektive wurde dies von der Berliner Tagung „Die ewige Frage: Latein für Romanist*innen“ im Jahr 2023 beleuchtet (Mayer / Reimann i.Vb.). Doch auch in inhaltlich-fachwissenschaftlicher Perspektive scheint sich das Blatt gewendet zu haben: Die lateinische Sprachgeschichte wird in der Romanistik kaum mehr beforscht, aber auch die Antikerezeption spielt in der Literaturwissenschaft nur noch eine marginale Rolle, die sich entwickelnden Kulturwissenschaften nehmen ebenfalls wenig Kenntnis von der antiken Prägung der romanophonen Kulturen. Insbesondere die ursprünglich disziplinkonstituierende Entwicklung vom Lateinischen zu den romanischen Sprachen stellt dabei kurioserweise ein Forschungsfeld dar, das von allen potentiell beteiligten Disziplinen vernachlässigt wird: Für die Indogermanistik kaum relevant (vgl. z.B. Meier-Brügger 2010), ist eine latinistische Sprachwissenschaft innerhalb der deutschen Klassischen Philologie beinahe inexistent (vgl. Willms 2013), die Romanistik bemüht sich nur noch sehr punktuell um die Beforschung des lateinischen Ursprünge der romanischen Sprachen (z.B. Kiesler 22018) und verzichtet oft auch in der Lehre auf die Vorteile eines komparatistischen Ansatzes. Ähnliches gilt beispielsweise für das antike Erbe in den romanischen Literaturen (vgl. z.B. Becker et al. 2023). Innerhalb der romanistischen Fachdidaktik der letzten Jahrzehnte findet das Lateinische nur sehr punktuell in empirischer Forschung und theoretischen Modellierungen Berücksichtigung (z.B. Müller-Lancé 2006, Reimann 2023).
Unter Bezugnahme auf die Titel zweier Publikationen aus dem Jahr 1971, als das antike Erbe noch selbstverständlicher Bestandteil der Romanistik war, – „Lateinisch und Romanisch“ von Olaf Deutschmann und „Griechisch und Romanisch“, herausgegeben von Gunter Narr, will die Sektion dazu anregen, Beiträge aus den drei bis vier romanistischen Teildisziplinen zusammenzutragen, die von der Vitalität oder einem etwaigen Neuaufschwung der Beschäftigung mit den Bezügen der romanischen Sprachen zu den alten Sprachen, die Interdependenzen zwischen romanophonen Literaturen und Kulturen mit den antiken Kulturen – die etwa für das Verständnis und die Kontextualisierung der romanischen (Sprachen und) Kulturen des Mittelalters unabdingbar ist – und der Nutzbarmachung des griechisch-lateinischen Erbes in der Fremdsprachenvermittlung zeugen.
Mögliche Themenkomplexe und Fragestellungen wären etwa:
- neuere Forschungen zur indogermanistischen und latinistischen Sprachwissenschaft mit romanistischer Relevanz
- Mehrsprachigkeit in der Antike als Folie zu aktuellen Diskursen der Mehrsprachigkeitsforschung
- neue Forschungen zur Antikerezeption in der Romania
- neue theoretische Perspektiven auf Antikerezeption in der Romania (etwa postkoloniale Diskurse, Dekolonisierung, usw.)
- Antikerezeption in den aktuellen romanophonen Kulturen, beispielsweise in populärer Textmusik, Musikvideoclips, in den Sozialen Medien, usw.
- Griechisch und Lateinisch als Elemente einer romanistischen Mehrsprachigkeitsdidaktik
- Einbeziehung des Lateins in ein komparatistisches hochschuldidaktisches Modell (ggf. auch ohne Latinum) / Konstituierung (zwecks Wiederaufnahme) eines “Lateins für Romanisten”
Bibliographie
Becker, Lidia et al. (2023): „Antike und die Romania [Sprache – Literatur – Materielles Erleben der Antike – Humanismus]“, in: dies. / Eggert, Elmar / Gramatzki, Susanne / Mayer, Christoph Oliver (Hrsg.): Handbuch Mittelalter und Renaissance in der Romania. Frankfurt am Main et al.: Peter Lang, 25-57.
Deutschmann, Olaf (1971): Lateinisch und Romanisch. München: Hueber.
Kausen, Ernst (2012): Die indogermanischen Sprachen. Von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart. Hamburg: Buske.
Kiesler, Reinhard (22018): Einführung in die Problematik des Vulgärlateins. Berlin et al.: De Gruyter.
Mayer, Christoph / Reimann, Daniel (Hrsg.): Latein für Romanist*innen? Frankfurt am Main et al.: Peter Lang.
Meier-Brügger, Michael (92010): Indogermanische Sprachwissenschaft. Berlin et al.: De Gruyter.
Müller-Lancé, Johannes (2006): Der Wortschatz romanischer Sprachen im Tertiärsprachenerwerb. Lernstrategien am Beispiel des Spanischen, Italienischen und Katalanischen. Tübingen: Stauffenburg.
Narr, Gunter (Hrsg.) (1971): Griechisch und Romanisch. Tübingen: Narr.
Reimann, Daniel (2023): „Ein mehrdimensional-integrierendes Modell der Mehrsprachenaneignung. Ein Vorschlag zur theoretischen Weiterentwicklung der Mehrsprachigkeitsdidaktik”, in: Eibensteiner, Lukas / Kropp, Amina / Müller-Lancé, Johannes / Schlaak, Claudia (Hrsg.), Neue Wege des Französischunterrichts. Linguistic Landscaping und Mehrsprachigkeitsdidaktik im digitalen Zeitalter. Tübingen: Narr 2023, 25-74.
Willms, Lothar (2013): Klassische Philologie und Sprachwissenschaft. Göttingen: Vandehoeck & Ruprecht.